Produktionsbedingungen der Architektur. Zwischen Autonomie und HeteronomieForum Architekturwissenschaft,Bd. 1Hg. von Tilo Amhoff, Henrik Hilbig und Gernot WeckherlinThelem, Dresden 2018 LinkISBN: 978-3-9453-6365-2
Inhalt und Vorwort
ABSCHNITT I: AUTONOMIE UND HETERONOMIE
Michael MüllerArchitektur, Autonomie und Ornament+Autonomie der Architektur heute ist im Sinne der Tradition idealistischer Ästhetik nichts als reine Mystifikation. So sind die neoliberal affirmativen Strategien der Rückgewinnung ästhetischer Autonomie ebenso gescheitert wie die hochgradig intellektualisierten Architekturen in ihrer Distanz zur äußeren Welt des Kommerzes, des Kapitalismus und der ideologischen Kräfte. Dieser Beitrag fragt nach einer Autonomie jenseits affirmativer Ästhetisierung und oppositioneller Haltung. In der Figur des Ornaments sieht er die Möglichkeit verkörpert, die Unvereinbarkeit von autonomer Architektur und der Gesellschaft als dem ‚Außen‘ und dem ‚Anderen‘ aufzubrechen. Im Ornament verbinden sich sinnbildlich und spannungsreich die formästhetisch zweckgebundenen und die autonomen Anteile der Architektur.
Claudia MarraDie Architekten von S. Giustina.Zu Vertragsbindung und Entwurfsfreiheit in einer Kirchenbaustelle des 16. Jahrhunderts+In der kunsthistorischen Forschung wird der Architekt der Frühen Neuzeit als eine Künstlerpersönlichkeit betrachtet, dessen Tätigkeit im zeichnerischen Erfassen von Entwürfen besteht. Die daraus resultierenden Bauten gelten als auf seine Urheberschaft zurückgehende Kunstwerke. Ein Blick auf die praktischen Umstände des Bauens im 16. Jahrhundert lässt allerdings ein viel differenzierteres und komplexeres Bild zum Vorschein treten. Der Neubau von St. Giustina in Padua verdeutlicht dies paradigmatisch. Er zeigt, dass eine auf künstlerische Leistung beschränkte Auffassung des Architektenberufes revidiert werden muss.
Jörn JanssenDie Architekten im Arbeitsprozess der Bauproduktion: Scheinselbständig+Die Auflösung unbefristeter individueller Abhängigkeit der Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern ist eine universell zu beobachtende Transformation der Arbeitsverhältnisse in allen Produktions- und Dienstleistungssektoren. Diese Entwicklung betrifft in der Bauplanung die unter verschiedensten Vertragsformen Angestellten. Auch das Berufsfeld der Architektinnen und Architekten löst sich auf. In dieser Struktur ist individuelle Autonomie kontraproduktiv, während die Wahrnehmung sozialer Autonomie, als Äußerung von Subjektivität verstanden, Emanzipation und Produktivität der Arbeit befördert. Die Frage der Selbständigkeit erübrigt sich.
Silke ÖtschArchitekturwissenschaft als Soziologie der ArchitektInnen und alsWissensumsetzungsschaft+Architekturkritik widmet sich ausgewählten Bauwerken und analysiert selten gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dabei prägen strukturelle Dynamiken wie Finanzierung und Gesetzgebung maßgeblich die Architektur – verglichen mit Handlungsmöglichkeiten auf der Mikroebene. Der Beitrag skizziert Ansätze einer Architekturwissenschaft, die diese Lücke füllt. Er verweist auf eine an die Professionssoziologie angelehnte ‚ArchitektInnensoziologie‘ und auf Forschung zur Finanzialisierung in der Architektur. Durch eine notwendige sozial-ökologische Transformation entstehen Rahmenbedingungen, die ArchitektInnen zur Neudefinition des Berufs in eine Wissensumsetzungsschaft nutzen können.
ABSCHNITT II: KAPITAL UND ARBEIT
Matthias Albrecht AmannStädtebau in der unsichtbaren Stadt+Ein beachtlicher Teil der öffentlichen und der privaten Bauproduktion verdankt seine Entstehung der Bereitstellung staatlicher Mittel der Städtebauförderung. Er ist im Kräftefeld zwischen kommunaler Planungshoheit und staatlicher Steuerung durch Bund und Länder besonders exponiert. Dieser Beitrag beleuchtet schlaglichtartig, welche Kräfte durch das Verwaltungsverfahren der Städtebauförderung und das ihm zugrunde liegende Stadtverständnis auf die Architekturproduktion wirken.
Kerstin RenzKriegswichtig.Produktionsbedingungen industriellen Bauens im Ersten Weltkrieg+Der Beitrag befasst sich mit den Produktionsbedingungen und Bauaktivitäten einzelner deutscher Industrieunternehmen im Ersten Weltkrieg und plädiert dafür, synergetische Mechanismen zwischen Bauherren, Banken und steuerlichen Rahmenbedingungen stärker in die Betrachtung miteinzubeziehen. Kriegszeiten gelten in der Architekturgeschichte gemeinhin als Phasen des Stillstandes oder der Abschwächung der Bauproduktion. Nicht so im Bereich der Industriesektoren, die in den Jahren 1914–1918 mittel- oder unmittelbar in Rüstungs- und Versorgungsaufgaben eingebunden waren: Bauproduktion und Bauwirtschaft sind eng mit den Phasen der Kriegsführung sowie mit spezifischen Anleihefinanzierung verbunden gewesen, so dass Monumentalarchitekturen genauso wie experimentelle Bauten entstehen konnten.
Eike-Christian Heine„Eisenbahnarbeiter, Berg- und Thalversetzer“Der Bau der europäischen Verkehrsinfrastruktur und die Körper der Erdarbeiter+Im Mittelpunkt der Beobachtung dieses Beitrags stehen der Produktionsprozess der Erdarbeit und die Körper der Erdarbeiter im 19. Jahrhundert. Einige wenige überlieferte Autobiografien von Erdarbeitern erlauben, zusammen mit der Handbuchliteratur und den sozialpolitischen Diskursen, den Produktionsprozess sowie die Selbstwahrnehmung dieser Arbeiter zu rekonstruieren. Vier Themen stehen dabei im Zentrum: Die Gefährdung des Körpers, aber auch die Inszenierung der Körperlichkeit am Bau; die Versorgung und Unterbringung der Erdarbeiter sowie die Rolle des Alkohols als Teil der Kultur der Erdarbeiter.
ABSCHNITT III: GESETZE UND VERORDNUNGEN
Anke BlümmVerordnete ‚Baukultur‘.Über die erste Hochkonjunktur eines Begriffs im Nationalsozialismus+Der Beitrag lenkt den Blick auf den Begriff „Baukultur“ und seine Verwendung ab dem 19. Jahrhundert. Insbesondere im Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 erfreute sich der Begriff regen Gebrauchs und war Gegenstand gesetzlicher Regelungen. Daher sollen abschließend einige Hinweise gegeben werden, die zu einer kritischen Debatte über den Terminus „Baukultur“ und seine Verortung in heutiger Zeit anregen mögen.
Philipp DechowGestaltungssatzungen der zweiten Generation.Vom bewahrenden zum ermöglichenden Instrument+Gestaltungssatzungen zählen zu den umstritteneren Instrumenten der Stadtplanung. Von den einen als Gängelung und Eingriff in die Gestaltungsfreiheit kritisiert, von anderen als einzige Möglichkeit angesehen, die Qualität eines Ortsbilds zu erhalten und zu gestalten, sind sie immer wieder Gegenstand kommunalpolitischer Konflikte. Angesichts der Pluralisierung der Gesellschaft sowie eines Wandels in der Baukultur stellt sich die Frage, ob das Instrument der Gestaltungssatzungen nicht erneuert werden muss. Am Beispiel des Ortskerns von Münchingen (bei Stuttgart) wird aufgezeigt, wie eine Satzung vom bewahrenden zum ermöglichenden Instrument weiterentwickelt werden kann.
ABSCHNITT IV: BAUNORMEN UND BAUMATERIALIEN
Erik MarokoKirchen aus dem Schiffsbauch.Architekturteile in Ravenna als Pfänder für das Diesseits und das Jenseits+Für die frühchristlichen Kirchen Ravennas sind in erheblichem Umfang marmorne Bauglieder aus den Brüchen der Marmara-Insel bei Konstantinopel eingeführt worden. Die Architekturteile, beispielsweise in Form von Säulen oder Schrankenplatten, sind oft komplett vorgefertigt angeliefert worden, eine Praxis des Austauschs, die den gesamten östlichen Mittelmeerraum umfasste. Dieser Austausch ist im Rahmen der Architekturpraxis bisher kaum untersucht worden, doch es gibt Anzeichen dafür, dass er als konstitutiv für große Teile des mittelalterlichen Bauens bis hin zu Karl dem Großen anzusehen ist.
Philipp OswaltAnonyme Moderne – Architektur der Patente+Das Verständnis von der Architektur (der Moderne) folgt einer heroischen Geschichtsschreibung: heldengleiche Architekten schaffen ikonische Bauten, die Geschichte schreiben. Die Realität der Architekturpraxis ist weitgehend eine andere. Die Moderne als Prozess vollzieht sich in der Akkumulation einer Vielzahl von meist kleinen Veränderungen in den unterschiedlichsten Bereichen. Patente repräsentieren und dokumentieren diese Geschichte der Mikromoderne sowie der Erfindung und ständigen Weiterentwicklung einer Vielzahl von Elementen und Methoden. Aus deren Akkumulation entsteht die Architektur der Moderne. Moderne Bauten sind nicht holistische Entitäten, sondern Aggregate aus eine Vielzahl von Komponenten.
Sabine KühnastNormen, Patente, ZulassungenDie Senkung der Wärmeleitfähigkeit von Ziegeln als Beispiel der Wechselwirkungenvon technischem Fortschritt und Wirtschaftspolitik 1945–2013+Der Beitrag geht dem Gegenstand des wärmedämmenden Ziegels nach, der in der Ziegelindustrie zu einem zentralen Forschungs- und Innovationsfeld des 20. und 21. Jahrhunderts geworden ist. Dabei werden die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge herausgearbeitet, welche für die jeweiligen Forschungs- und Innovationsergebnisse verantwortlich waren. Zu diesem Zwecke sind Normen, Patente und die allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen vergleichend dargestellt und innerhalb dreier Zeitabschnitte, von 1945 bis 2013, analysiert.
Doris HallamaMythos MaterialgerechtigkeitSchutzhüttenbau im Hochgebirge zwischen energetischer Optimierung undtraditioneller Form+Ist vom Bauen in den Alpen die Rede, schwingt die Vorstellung von übermittelten Bautraditionen, ortsgebundenem Material und Formenrepertoire mit. Auch scheinen logistische, dem Bauablauf geschuldete sowie klimatische Bedingungen zwingend und offensichtlich Konstruktion und Form der Architektur vorzugeben. Der Beitrag wirft am Beispiel des Schutzhüttenbaus der Alpenvereine einen genauen Blick auf das Thema und macht deutlich, dass die wenigsten dieser Vorstellungen zutreffen. Es stehen der Mythos vom Material als regionalem, kulturellem Wert der Vorstellung entgegen, die Material, Bautechnik und -konstruktion sowie den Bauablauf der energetischen Optimierung verpflichtet sieht.
ABSCHNITT V: BAUHANDWERK UND BAUINDUSTRIE
Uli Matthias HerresSpuren des Handwerks+Handwerk in der Architektur scheint heute eigentlich kein Thema mehr zu sein. Wer soll im Zeitalter der Digitalisierung noch mit der Hand bauen? Das klingt zumindest romantisierend. Bei näherer Betrachtung ist die Sache jedoch komplizierter: Was ist Handwerk überhaupt? Was kann es heute sein? Der Text möchte dazu anregen, sich diesem Begriff frei von Vorurteilen zu nähern und schlägt vor, darunter eine bestimmte Fertigungsweise zu verstehen, die direkte Auswirkungen auf die Physis und die Wahrnehmung der gefertigten Objekte haben kann. Wichtiger als die Frage, ob mit den Händen gearbeitet wird, ist die Frage nach der Verteilung der Verantwortung im Bauprozess.
Torsten LangeHandwerkelei als Prinzip.DIY im industriellen Wohnungsbau der DDR+Die Architekturproduktion in der DDR war seit Ende der 1950er Jahre stark durch die Industrialisierung des Bauwesens geprägt. Allerdings existierte – gerade auf dem Sektor des Wohnbaus – auch eine andere Wirklichkeit, die dem propagierten Bild einer umfassenden und effizient industrialisierten Bauproduktion gegenüberstand. Die staatlich forcierte Aktivierung der Bewohner für Bau- und Reparaturaufgaben im Wohnungsbau ist Indiz, dass Handwerkelei ein zentrales Prinzip des Bauwesens war. Dieser Beitrag geht diesem von der Geschichtsschreibung bislang wenig beachteten Aspekt nach.
Autorinnen und Autoren, Impressum